Retribution durch Karma
Wenn ein Konzept aus einer Region der Welt und ihrer Kultur in eine andere Region aufgenommen wird, dann passiert das meistens nicht eins zu eins, sondern mit einer Verzerrung der ursprünglichen Bedeutung. So auch mit der Bedeutung von Karma. Benutzt jemand in unseren Breitengraden dieses Wort, dann kann man es fast immer mit "Gott" ersetzen, denn das ist die darunterliegende Vorstellung davon. Auch wenn sie wissen, dass Karma eher ein universales Gesetz ist und keine persönliche Gottheit, die bewusst Regeln aufträgt und Entscheidungen trifft, behandeln sie es doch so, als ob, da dieses Konzept schon zu tief in ihnen verankert ist.
Karma und Moral
Das wir es synonym mit Gott verwenden, sieht man gut daran, dass Karma immer mit Moral in Verbindung gebracht wird. Und Moral ergibt bei einem universalen Gesetz absolut keinen Sinn, denn es gibt keine universale Moral. Nicht nur haben Menschen verschiedene Definitionen von richtig und falsch je nach Teil der Welt, sondern auch hier, wo wir gerade sind, wenn wir nur in der Zeit zurückgehen. Wenn jemand vor 1000 Jahren etwas getan hat, was für uns heute unmoralisch ist, aber zu seiner Zeit noch nicht, dann wäre es unlogisch, wenn er dafür negative Karmapunkte bekommt. Und umgekehrt genauso. Wer sagt außerdem auch, dass wir hier und heute die besten moralischen Normen haben?
Ganz offensichtlich kann Karma nichts mit richtig und falsch zu tun haben. Es kann nichts damit zu tun haben, dass jemanden schlechtes wiederfährt, wenn er anderen etwas schlechtes tut und ihm gutes wiederfährt, wenn er anderen gutes tut. Denn es gibt aus universeller Sicht kein gut und schlecht, es gibt nur Zusammenwirken von Kräften. Jede Kraft ist stark oder schwach, irgendein Punkt auf einer Skala.
Wenn du zum Beispiel gegen eine Wand schlägst, aber ganz leicht, dann wirst du selber keinen Schmerz spüren, aber schlägst du mit deiner ganzen Kraft, wirst du dir möglicherweise deine Knöchel brechen. Die Kraft, die du der Wand entgegengebracht hast, hast du in gleicher Weise wieder zurückbekommen. Das ist Newtons drittes Bewegungsgesetz, Kraft gleich Gegenkraft und ist eine Form von Karma, nämlich die Form der physikalischen Kraft. Niemand hat da gemessen und geurteilt, mit welcher Kraft du gegen die Wand geschlagen hast und es hat auch niemand versucht ein Gleichgewicht des Leids herzustellen. Wenn man richtig und falsch danach ausrichten würde, wieviel Leid eine Aktion hervorbringt (wie es Moral neigt zu tun), dann würde es dir nie wehtun, egal wie doll du gegen die Wand schlägst, da die Wand nicht in der Lage ist Schmerz zu spüren. Es findet hier ein Ungleichgewicht des Leids statt, daher kann es nicht der Dreh- und Angelpunkt von Karma sein, das ja bekanntermaßen Gleichgewicht herstellen will.
Individuell vs. Allgemein
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass es kein allgemeines gut und schlecht gibt, nur ein individuelles. Es gibt nichts, was für alle gut oder schlecht ist. Wenn es einen Gewinner gibt, gibt es immer einen Verlierer. Gibt es einen Verlierer, gewinnt ein anderer. Jede Situation erzeugt komplett verschiedene individuelle Wertungen, rein objektiv aber, aus der Perspektive eines universales Prinzips wie Karma, hat keine der Seiten mehr Gewicht, das Geschehene ist wertfrei.
Jeder von uns hat bestimmt schon mal eine Dokumentation über wilde Tiere in der Savanne gesehen. Ein bekanntes Motiv dabei ist der Löwe, der eine Antilope jagt. Instinktiv hoffen viele vielleicht, dass die Antilope entkommt, weil in dieser Situation sie das Opfer ist und der Löwe der Fressfeind, der die Jagd überhaupt angefangen hat. Aber die kühle Tatsache ist, dass nicht alles gut gehen wird, wenn die Antilope entkommt, sondern dass der Löwe verhungern wird. So oder so wird einer von ihnen verlieren und wer verliert, ist für die beiden Beteiligten relevant, aber nicht für das Universum.
Richtig ist, was natürlich ist. Wäre die Antilope entkommen, wäre es richtig; hätte der Löwe sie gepackt, wäre es genauso richtig. Wäre die Antilope entkommen und auch die nächste und die nächste und erst die danach hätte der Löwe erwischt, wären alle vier Fälle richtig.
Wir mögen jetzt denken, dass wir keine Tiere in der Savanne sind, sondern ziviliserte Menschen in geordneten Gesellschaften und dieses Prinzip nicht für uns gilt, aber man sollte nicht vergessen, wie diese Gesetze, die diese Gesellschaft in Ordnung halten, durchgesetzt werden. Mit der rohen Kraft, mit der Demonstration der Überlegenheit. Wenn du versuchst gegen den Staat aufzubegehren, wirst du ganz schnell spüren, dass wir keine zivilisierten Menschen sind, die dieses Prinzip überwunden haben. Zivilisiert ist sowieso ein anderes Wort für domestiziert. Der zivilisierte Mensch ist ein Hund, der vergessen hat, dass er ein Wolf ist. Und wo ein Hund ist, ist ein Herrchen.